Die Masken der Harlekine

Alles begann wie immer. Lediglich zwei, drei Überstunden zusätzlich lagen hinter mir. Doch das war ich gewohnt. Nur an meine sich drehenden Gedanken dabei, um die Vorsteuerabzüge meiner Mandanten und die Buchungen einiger komplizierter Vorgänge konnte ich mich nicht gewöhnen. Sie raubten mir den Schlaf, weil ich Nachts im Bett lag und immer noch mit den Arbeitsabläufen zu kämpfen hatte.

 

All das, was ich am nächsten Tag erledigen müsste, legte sich neben mich unter die Decke und versorgte das leuchtende Karussell in meinem Schädel mit Strom.

Schon auf dem Heimweg senkte die Schwere meiner Gedanken meinen Blick gen Boden. Und selbst die Musik meiner eigenen Playlist wirkte dumpf, weit weg und weckte kaum mehr eine Regung in meinem Gefühl.

 

Sogar die unzähligen Menschen am Alex, zwischen denen ich von der S-Bahn die Treppen hinab bis zur U5 trieb, waren nicht mehr, als sich bewegende Hindernisse, welchen es auszuweichen galt. Am Anfang hatten mich diese unzähligen Menschen noch überfordert, doch mittlerweile nahm ich sie kaum mehr wahr.

 

Wozu auch? Was zählte war anzukommen. Und runterzukommen. Essen, schlafen und am Ende der Nacht wieder raus und rein in die vertraute Umgebung meines Arbeitsplatzes.

Was auch immer in Ordnung war, denn mit meinen Kollegen kam ich gut klar.

Nur machte mir die Jahreszeit allmählich zu schaffen. Denn der Sommer zeigte bereits die ersten Anzeichen des Herbstes; Blätter die langsam ihr Grün verloren. Die Sonne, die immer früher verschwand sowie die Kälte am Morgen. Bald würde es unangenehm werden und dann wäre auch schon Winter.

 

Nichtsdestotrotz bemerkte ich eine Veränderung an den Lichtern der U-Bahn-Türen, als ich noch am Bahnsteig stand. Sie wirkten heller und wärmer als sonst. Obwohl ich mir das auch eingebildet haben könnte, denn den anderen Leuten um mich herum schien nichts aufzufallen. Sie stiegen ein, wie ich und versanken hinter geschlossenen Augenlidern, in Büchern, Smartphones oder dem Berliner Fenster.

 

Bei mir war es die Musik. Aber ich habe keine Ahnung mehr, was ich hörte.

Da waren lediglich wieder die Gedanken über diesen Anruf von einem Kunden, den ich am Vormittag führen musste und der mich immer noch aufregte.

Wie begriffsstutzig und gleichzeitig frech sowie unverschämt kann ein Mensch eigentlich sein?

 

Und so flog die Zeit über die Gleise. Öffnete ihre Pforten, spuckte Leute aus und nahm Neue auf, deren Weg den meinen kaum streifte.

Die Lieder in meinen Ohren wechselten mehrmals, bis die Lichter über den Türen ein weiteres Mal blinkten und ich halb stolpernd hinaus stürzte. Zum Glück hatte ich meine Station gerade noch bemerkt.

 

Abrupt kam ich zum Stehen. Die U-Bahn setzte sich hinter mir in Gang und reflexartig zog ich meinen Kopf ein, da drei Elstern direkt über mir hinweg flogen. Erstaunt schaute ich mich um, allerdings schien ich der Einzige zu sein, den das interessierte.

Unwillkürlich folgte ich ihnen. Schließlich nahmen sie den selben Weg, wie ich, jeden Abend nach der Arbeit.

 

Doch schnell versank das Gesehene wieder im Trott und ging unter in den wogenden Wellen ungleich gleicher Arbeitsabläufe.

Wie aufgereiht fuhr mich die Rolltreppe neben den anderen Menschen hinauf in die berliner Luft. Und überließ mich einem Himmel, den die Sonne hinter sich gelassen hatte. Nur die Lichter der Stadt bedeckten das Firmament. Blendeten die allermeisten Sterne aus und selbst der Mond wirkte unbedeutend matt.

 

Die mehrstöckigen Wohnhäuser rings herum schwiegen mich an. Und ich sie. Die Musik aus meinen Kopfhörern übertönte nur die lautesten Geräusche nicht. Wie das Aufheulen eines Motors, den Bremsen eines Autos oder dem Fluchen eines Radfahrers direkt neben mir.

So folgte auf Schritt einfach Schritt und darauf das Warten an einer Ampel, bis dem grünen Licht wieder Schritte folgten.

Meine Gedanken folgten jedoch meinem Magen. Jeden Abend an dieser Stelle, gut zehn Minuten vor meiner Wohnung, begann ich darüber nachzudenken, was und ob ich noch etwas zu essen kaufen sollte.

 

Der Geruch eines Döner-Imbisses kroch mir in die Nase. Und bevor mein Magen entschieden hatte, was er damit anfangen will, hörte ich in der Stille zwischen zwei Liedern meiner Playlist eine unbekannte Melodie.

 

Eindringlich verleitete sie mich dazu, stehen zu bleiben, meine Kopfhörer abzunehmen und in eine Gasse zu meiner Rechten zu starren. Das Rauschen des Verkehrs trat in den Hintergrund und ich fragte mich, ob ich jemals zuvor dort entlang gegangen war.

 

Jedoch erschien mir die Antwort auf diese Frage im Kern unwesentlich. Ich starrte nur und lauschte, sah zwischen den zwei dicht stehenden Häuserwänden hindurch, die in einen Innenhof zu führen schienen. Und hörte erneut das Spiel einer Geige.

Und dazwischen ein Krächzen.

 

Mein Blick wanderte auf den Asphalt vor der Gasse und eine Elster sah mich an. Sie schwenkte ihren Kopf hin und her, als würde sie mich neugierig betrachten, krächzte mich ein weiteres Mal an und stolzierte einige Schritte auf den Innenhof zu.

Wieder zuckte ich zusammen, da zwei andere der Rabenvögel über mich hinweg in die Gasse jagten, denen sich die Dritte anschloss.

War ich zuvor nur einfach gespannt auf das, was sich dort zwischen den Gebäuden abspielen mochte, war ich nun verunsichert. Jedoch nicht mehr in der Lage mich abzuwenden.

Und während ich näher kam, gesellte sich zu der Geige ein Cello sowie Piano, Querflöte und ein Cajón.

Auch ein Summen trat an mein Ohr. Allerdings legte sich die Stimme so unscheinbar unter die Instrumente, dass es schwer herauszuhören war.

 

Bald erreichte ich also eine hohe hölzerne Flügeltür am Ende der Gasse. Mein Herz schlug wild und aufgeregt, mein Kopf war angefüllt mit Neugier. Dennoch wartete ich bis zum Ende des Stücks, um es nicht zu stören und öffnete dann erst zaghaft das Tor.

Es gab keinen einzigen Laut von sich. Nicht einmal, als ich es wieder schloss.

Noch immer schwieg die Musik und vor mir lagen gut drei weitere Meter der Gasse, bis in einen Innenhof hinein. Jedoch sah ich bereits die Rücken anderer Menschen, denen ich mich vorsichtig näherte.

 

Diesmal begann das Piano. Eine Melodie sanft und melancholisch legte sich um mich. Und erst, da ich den Innenhof betrat, als hätte sie auf mich gewartet, stieg die Querflöte ein und hob das Stück zu etwas märchenhaftem an.

Ein Schauer lief über meinen Rücken und stellte die Härchen wie Federn auf, während der Anblick des Innenhofs, trotz der Dunkelheit, meine Sinne überrannte.

Der Lärm der Stadt war fort. Kein einziges Licht glimmte zwischen den zwei Birken unter denen die Gruppe aus Musikern saß und stand.

Niemand sagte ein Wort.

 

Vereinzelte Zuschauer blickten mich kurz an, selig lächelnd aus staunenden Augen.

Dann sah ich zu den Musikern und erkannte nicht mehr, als ihre Schemen. Lange schwarze Roben ließen sie mit der Nacht verschmelzen und nur aus ihrer Haltung vermutete ich, dass sie mir den Rücken zuwenden. Jeder einzelne der Sechs.

 

Ich weiß nicht wie lang es dauerte, bis die Show tatsächlich begann. Zeit verlor in diesem Moment jedwede Bedeutung. Doch den Auftakt gaben weder die Instrumente noch eine Stimme. Die Musiker warteten darauf, dass die Wolken beiseite zogen. Und da sie es taten, flutete der Mond mit seinem Licht den Hof.

 

Die Fenster wirkten wie Spiegel, die Birken schienen aus sich selbst in mattem Silber zu leuchten und jede Oberfläche der Instrumente, die der Reflektion fähig war, tat es ihnen gleich.

Takte verstrichen und mit jedem Musiker, der sich dem Lied anschloss, wandte sich ein weiteres silbernes Antlitz den Hörern zu.

Denn sie alle trugen Masken, die das Licht des Mondes einfingen und darin erstrahlten. Jede Maske war dabei anders und verdeckte mehr oder minder das Gesicht.

 

Einzig die Gestalt ohne Instrument verharrte weit länger in ihrer Starre.

Bis sie begann sich in den Rhythmen zu bewegen und im Takt zu summen.

Verführerisch ging sie auf in den Melodien, tanzte, als würde niemand sie beobachten und genoss doch sichtlich die Aufmerksamkeit der Zuschauer.

Im Moment eines doppelten Schlages auf das Cajón wandte sie sich um, trug eine Maske, die zwischen dem Silber nur strahlend grüne, schelmische Augen offenbarte und noch immer kann ich nicht sagen, ob die Gestalt weiblich oder männlich war.

Aber das spielte keine Rolle. Angetan folgten meine Augen jeder ihrer Bewegungen, während mein Verstand sich in der Musik verlor.

 

Und noch immer, wenn ich Birken sehe, oder mir ein Geruch in die Nase steigt, wie er zwischen den Bäumen lag, habe ich das Gefühl, der Harlekin würde mich ein weiteres Mal berühren.

Ein Lächeln hebt dann meine Mundwinkel an und der Impuls zu tanzen zieht durch meine Beine. Wann immer ich allein bin, gebe ich dem auch nur allzu gern nach und drehe mich durch die Gassen der Hauptstadt, als würden Instrumente erklingen und die Verführung höchstselbst mit mir das Tanzbein schwingen.

 

Nun ist mir bewusst, dass nicht jedes Wunder so eindringlich ist wie dieses.

 

Doch es lohnt sich ab und an hinzuhören. Hinzusehen. Denn vielleicht schaffen wir es so dem Alltäglichen einen Atemzug lang zu entgehen und in unseren Köpfen eine Reise anzutreten, die zwar Kurz, doch immerhin elektrisierend ist.