Die Augen starr auf den Teller gerichtet, verlieren sich die Gedanken in dem matschigen Muster aus Mischgemüse, Kartoffeln und den Resten dunkler Soße. Es besteht keine Eile, also ist es leicht die Zeit zu vergessen. Nur das Geräusch von Metall auf Porzellan ist aufdringlich genug, gerade dann wenn die Gabel über den Teller schabt, das Flimmern im Kopf zu durchbrechen. Doch nie ausreichend lang, um dem Jungen zu zeigen, dass außer ihm niemand sonst noch an den Tischen sitzt.
Ohne, dass er es wollte, hatten seine Gedanken fahrt aufgenommen und drehten sich nun im Kreis. Immer wieder sah Jasper so sich selbst zwischen den anderen Schülern seiner achten Klasse und wie sie ihm Hohn und Spott, verbal und körperlich an Kopf und Geist warfen.
Einer dieser Momente fand sich in allzu naher Vergangenheit. Auf seinem Weg zum Speisesaal, in einer blick geschützten Ecke des Schulhofes, sprachen diese drei Jungen ihn an. Dabei trieften ihre Stimmen voll Herablassung und wollten, dass der Kleinere sich verbeugt. Bedrohlich ruhig klingen die Worte noch jetzt in Jaspers Ohren.
"Na los mach schon", fauchte einer von ihnen, einer Hyäne nicht unähnlich. Der Druck lag zunehmend schwerer auf der Würde des Kleineren. Bevor jedoch dessen Körper dem anderen Willen nachgab, lief eine Gruppe Schüler vorbei. Jasper schaute nur kurz und schloss sich ihnen dann an. Er blickte sich nicht um, doch hörte das Lachen hinter seinem Rücken, ob der erfolgten Schikane.
Nun zwischen all den leeren Plätzen regt Zorn und Wut sich knisternd in dem jungen Geist. Die Frage keimt auf, wie Jasper seinen Wert beweisen kann, ohne so zu werden, wie diese Jungen es sind. Dennoch gesteht er sich ein, dass es ein hohes Gefühl sein muss, über den Anderen zu stehen, einzig durch die Überlegenheit des Körpers. Sicherlich ist er kleiner, aber es gibt Möglichkeiten dies zu nutzen. Bilder springen ihm vor die Augen, von Kriegern aus Filmen, deren Wissen in der Kunst des Kampfes die Schwäche des Körpers auszugleichen vermag. Schnell sieht er sich in diesen Rollen und kostet bereits den Sieg durch Kampf, als er mit beiden Fäusten auf den Tisch schlägt. Er verdammt sich selbst, dass er doch wirklich in Erwägung zieht, so zu werden, wie er es verabscheut zu sein. Die Anstrengungen seines inneren Konfliktes zeichnen dabei das kindliche Gesicht und Schweiß rinnt vom Haupt mit den schulterlangen dunklen Haaren gen Boden.
Es muss eine andere Möglichkeit geben! Eine andere Art sich zu beweisen. Eben Anerkennung zu sammeln.
Also beginnen Gedanken zu rasen, abwechselnd gegeneinander zu krachen und Funken zu schlagen, bis der Wille zu finden, die Unruhe entfacht, in der die Klarheit wartet und Jasper zwingt, sich zu erheben. Mit Schwung rutscht der Stuhl zurück, bleibt dennoch stehen und muss den Jungen ziehen lassen, der da Stolz und unnachgiebig durch den Saal gen Ausgang schreitet. Ohne Zweifel und im eiligen Schritt zeichnet er mit seinen Händen die Silhouette einer Pforte, welche sich sodann vor ihm öffnet. Sie gleicht einem Vorhang aus fließendem Feuer. Der Rahmen ist glühend, gebogen, kann die Hitze nicht halten und entlässt sie in die flirrende Luft. Jasper spürt dieses Wunder mit mehr Sinnen, als dem Körper gegeben und nur wenige Meter bleiben, bis dorthin. In wilder Entschlossenheit stößt er einen Schrei aus, gleich einem Greifvogel, der bereit ist, sich zu beweisen. Nichts mehr will er, als zu zeigen, was in ihm steckt.
Mit zurückgeworfenen Armen lässt er sich fallen, hin zum Horizont aus Feuer und Leidenschaft.
Brennend legt sich der Vorhang wie ein Mantel erst um Kopf und Oberkörper, lässt bereits die Schwingen erahnen und da Jasper gänzlich hindurch ist, steigt er auf.
Orangerote Flammen bedecken wie Federn nun Flügel und Leib, tragen das junge Bewusstsein durch die Korridore der Schule, ohne aber Wände und Inventar zu entzünden. Berauscht von Geschwindigkeit und Wärme, schlägt Jasper die Flügel ungleich, zu Boden und Decke, beginnt zu rollen und schnellt an seinen Unterrichtsräumen vorbei in Richtung Freiheit. Schnell und schneller wird er im erneuten Flügelschlag, sieht das Ende des Ganges und hält darauf zu. Links und rechts führt der Weg weiter, doch wie soll er eine solche Wendung vollführen ?
Wie zur Antwort hierauf dehnt sich die Zeit, bis sie beinahe gänzlich verharrt und Raum schafft für die Gedanken möglicher Szenarien. Keine verspricht Erfolg, bis Intuition sich einmischt, Gewissheit sät und die Zeiger der Uhren wieder gewähren lässt. In tollkühner Trance und binnen eines einzelnen Lidschlages gleitet Jasper an die linke Wand des Korridors, dreht sich um neunzig Grad und mit Plakaten von Schülern unter Schwingen und Klauen wartet er auf den perfekten Moment.
Bald schon erreicht, stößt er sich mit Flügeln und Beinen ab, entflammt die berührten Papiere und rauscht knapp an den Schließfächern vorbei in den rechten Gang. Den Ausgang vor Augen treibt er zurück in eine horizontale Lage, bis er ein Mädchen erspäht, das bereits gefährlich nah vor ihm steht und nichts tut außer starren. Jasper verwundert es nicht, denn sein Anblick muss wahrlich majestätisch und einschüchternd zugleich sein. Doch noch immer fliegt er direkt auf die Unbewegliche zu, will sie nicht verbrennen und nutzt den restlichen Schwung, um eine Spirale zu vollführen und über den ungläubigen Augen hinweg zu gleiten.
Vertraut mit seinen neuen Fähigkeiten, zieht er sodann die Flügel an, prescht durch die offene Pforte seiner Schule und steigt erleichtert gen Sonne auf. Die wohl vertraute Enge liegt hinter ihm und von nun an, so denkt Jasper, bleibt nur der Himmel als Grenze bestehen. Doch bevor er sich aufmacht, seine gewonnene Stärke zu nutzen, verweilt er nach starkem Flügelschlag einen Moment lang mit geschlossenen Augen. Noch als die Erde ihn wieder zu sich holt, ruht er, genießt die Entschlossenheit aus Erkenntnis über die eigenen Fähigkeiten. Erst, da der Boden schon zu nah ist, will er seine Flügel öffnen und in diese Allee dort tauchen, um die Geschwindigkeit voll auszukosten.
Doch das Scheppern von Geschirr kommt ihm zuvor. Ungläubig öffnen sich seine Augen, erblicken den Speisesaal mit der etwas untersetzten Köchin der Schule, welche dabei ist die Reste der Gedecke von den Tischen zu klauben. Mit Stolz und Bedauern denkt Jasper an den soeben vergangenen Traum und richtet sich auf. Er greift seinen Rucksack, dann sein Geschirr und nimmt noch andere Teller, Messer und Gabeln auf seinem Weg hinaus mit. Bei alledem ist aber nicht ganz sicher, ob er noch träumt oder doch tatsächlich wach ist.
Das Lächeln der Köchin verabschiedet ihn, nachdem er das Geschirr abgestellt und den Ausgang angesteuert hat. Zwar ist ihm nicht ganz klar, was die Bilder, die er gesehen hatte, zu bedeuteten haben, doch sie brannten sich in seinen Geist ein. Daheim würde er sie zeichnen, denkt er gerade, da er durch die Pforte der Schule hinaus tritt. Tief atmet er ein und die Luft riecht anders als noch zuvor. In ihr liegt nun dieser Hauch von Aufbruch und Weite, welcher Jasper seine Tasche vom Rücken nehmen und im unbewussten Trieb nach Zeichenblock und Stifte suchen lässt. Ohne weitere Schritte setzt er sich auf die Treppe des Eingangs, vergisst die Welt um sich und beginnt zu zeichnen. Erst als der Gong zur Pause ertönt, hält er inne, betrachtet sein Werk und sieht durch das Papier, wie durch ein Fenster, direkt in seinen Traum.