Ohne Scheu steht hoch am Himmel der volle Mond und blickt hinab. Sein Licht erfüllt einen Wald, der im Schlaf unter Schnee und tiefem Winter liegt. Tiere und Pflanzen ruhen, teilen sich die Stille der Nacht, die nur unterbrochen wird, wenn der Wind an Sträuchern und Ästen zieht. Fällt sodann der Schnee von Baum gen Boden, ist es, als läge ein Kichern in der Luft. Ausgelassen ruft es schon nach dem nächsten Streich, auf dass ein Geräusch erklingt, das mit ihm tanzt.
Doch nicht ohne Grund wacht der Mond heut' über dieses Tal. Eine Ahnung lockte ihn und riet ihm, hell und stark zu sein. Er vertrieb die Wolken, um ungehindert schauen zu können, welch Unheil ihn da rief.
Der Lohn der Suche ist ein Schatten, der zwischen den Bäumen taumelt und nach Angst und Kälte riecht. Stets weiter und weiter scheint er vor dem Licht zu flüchten, das am Rand des Waldes aus den Häusern dringt. Mit seinem Atem schiebt er ein leises Flüstern vor sich her und spricht den immer gleichen Satz:
„Nur nach Haus, wo bin ich nur?“
Jung und schwach ist diese Stimme, die durchs Licht den Mond erreicht. Er hört sie klar und wünscht zu handeln, damit der Junge heimwärts gehen kann.
Schritt um Schritt sieht er ihn mit Mütze, Schal und hohen Schuhen. Doch bald schon will er weiter nichts, als sich zur Rast zu setzen. Sollte dies dann erst geschehen, schließt er still die Augen, bettet sich, schläft ein und verliert sein junges Leben. Der Gedanke bannt den Mond, lässt seinen Blick auf dem kleinen Mensch verharren.
„Sieh doch!“, will er rufen, „dreh dich um und sieh dein Heim!“.
Mal um Mal versucht's der Mond, aber ohne Stimme bleibt er stumm. Was kann ich tun, außer zu zu sehen, denkt er traurig und betrachtet weiter, den Jungen unten in dem dichten Wald.
Herr der Träume bin ich. Sie trag ich in die Nacht. So könnt ich mit ihm reden! Doch schläft er erst, ist es bereits zu spät.
Stolpernd tritt der Junge grad' hinaus auf eine Lichtung, fällt in den Schnee, bewegt sich nicht, doch hebt sich wieder auf die Knie. Beinah' schläft er. Aber noch nicht ganz. Dies ist seine Chance.
Nur eine kurze Pause, dann geh ich weiter. Hier ist der Schnee so wohlig warm, denkt das Menschenkind und schließt fast beide Lider. Der Junge kniet, der Wind frischt auf, Schnee beginnt zu tanzen.
„Dies ist nicht der rechte Ort, um ein Nickerchen zu halten“, erklingen sanfte Worte für das Kind. Es hebt den müden Blick und sieht doch nichts als Schneegestöber. Nur kurz, denk es noch und legt sich nieder.
„Schlafe nicht. Geh nach Haus!“, flüstert's direkt ins Ohr des Jungen, dass er erschrickt und beinahe ganz aufwacht.
Schnee und Wind bewegen sich gemeinsam hin zu einer Stelle, bilden eine Kugel aus reinem Weiß. Die Augen des Jungen richten sich darauf und sehen zu, wie mehr und mehr des Schnees über die Lichtung wirbelt und zusammenkommt, um ihm eine neue Form zu geben.
„Bist du ein Engel?“, zitternd stellt das Kind die Frage.
Die Antwort folgt, da Kleid und Schwingen bereits erahnbar sind:
„Ich bin, was du in mir zu sehen glaubst“.
Staunend blickt der Junge drein; Folgt dem Tanz von Wind und Schnee, bis das Wirrwarr endlich endet. Groß und Stolz steht nun dies Wesen vor ihm, das im Licht des Mondes aus sich selbst zu strahlen scheint. Seine Flügel, weit gestreckt, sind ganz aus Eis. Es trägt Augen tief und klar, wie es der Winterhimmel ist, in einem Schädel, der Kahl auf filigranen Schultern ruht.
Das Menschenkind verharrt ganz leis', bis es die entstandene Stille füllt.
„Kannst du mir den Weg nach Hause zeigen?“
„Aber den kennst du doch bereits“, erklingt die Erwiderung direkt im Kopf des Kindes, denn laut zu sprechen, vermag das Wesen nicht.
„Nein. So weit im Wald war ich noch nie“.
„Oh, aber Ich weiß du warst es. Und nicht selten“.
„Woher weißt du das?“, der Junge sieht sich zaghaft um, „ich kann mich nicht erinnern“.
Wissend blickt das Wesen, zum Himmel hoch dem Licht entgegen.
„Der Mond hat es verraten. Er ist der Grund, warum ich bei dir bin. An diese Lichtung soll ich dich erinnern und berichten, wie sie im Sommer blüht und duftet“.
Schwungvoll wendet es sich um und legt die Flügel an.
„Sieh nur und stell dir vor, es sei heller lichter Tag. Die Bäume sind behangen mit dem Grün der Blätter und Insekten, wie auch Vögel, schwirren all umher“.
Gern würd' das Menschenkind dieses Bild hier vor sich sehen, doch die Kälte macht so müde und verbrennt jede Phantasie.
„Bitte zeige mir den Weg! Ich will nur Heim, sonst nichts. Keine Erinnerung an Licht und Sommer hilft mir im Moment. Einzig Wärme kann mich retten“.
Das Wesen blickt erneut zum Jungen und traurig scheint's zu sein.
„Leider kann ich dich nicht wärmen, denn ich bin nun mal der Schnee. Auch die Richtung musst du selber finden, von der ich aber weiß, du kennst sie schon.“
Ungläubig schaut das Kind, doch zaghaft erhebt es sich. Die Gedanken dumpf, die Augen schwer und Kraft bleibt kaum genug zum Stehen.
„Engel, wo bist du?“, ruft der Junge plötzlich aus.
Allerdings sind außer ihm nur noch Wind und Schnee auf dieser Lichtung. Hektisch sucht er nach den Spuren, die die Gestalt geschaffen haben muss. Er wendet sich, dreht herum, sein Herz wird schneller. Doch unberührt ist das Weiß, wo er selbst nicht lief.
„Engel!“, ruft er wieder und blinzelt in die Nacht. Hoffnung keimt und wird zur Blühte.
„Dort hinten! Das ist Licht!“
Zufrieden kommen Wolken auf, da der Mond nun ruhen kann. Seine Tat in diesem Wald ist wohl vollbracht und den Jungen hindert nichts, sein Heim zu finden. Fröstelnd stapft er durch den Schnee und bevor die warme Stube ihn umfängt, blickt er ein letztes Mal für diese Nacht ins Angesicht des Mondes. Seine Augen leuchten hell, silbrig, grau, facettenreich und tiefe Dankbarkeit zeigt sich darin.